Der Wandel vom mechanistischen zum ganzheitlichen Welt- und Menschenbild
Wir befinden uns inmitten eines Paradigmenwechsels: Längst scheinen die mechanistischen Leitbilder des Industriezeitalters veraltet zu sein und ein neues ganzheitliches und ökologisches Paradigma ist im Begriff zu entstehen.
Eine Wirtschaft, in der Effizienzsteigerung, Beschleunigung, Gewinnmaximierung, stetes Wachstum und Profit im Fokus steht, stößt immer mehr an die Grenzen des Wachstums. Das alte Denkmodell der maximalen Ausbeutung der inneren und äußeren Ressourcen, das „mindset of maximum “me”— maximum material consumption, bigger is better, and special-interest-group-driven decision-making“, wie es Otto Scharmer nennt, ist an sein Ende gekommen.
Die Signale dafür, dass wir nicht mehr so weiter machen können wie bisher, häufen sich: der brennende Amazonas, das Aussterben bedrohter Tierarten, das Sterben von Meerestieren durch Plastikmüll, das Schmelzen von Gletschern, Finanzkrisen, Wirtschaftsskandale, Burnout und Boreout, Mitarbeiter, die bereits die innere Kündigung eingereicht haben….
Ein Umdenken ist dringend erforderlich. Natürliche Rhythmen, natürliche Grenzen, organisches Wachstum, Nachhaltigkeit und Umweltschutz sind die neuen Richtwerte. Der Wirtschaftsphilosoph Frederic Laloux bezeichnet das kommende Leitbild in seinem Grundlagenwerk zur integralen Organisationsentwicklung „Reinventing Organizations“ als das „integrale evolutionäre Paradigma“. Es geht dabei um die Überwindung des Ego, der Trennung, und den Wandel hin zu einer ganzheitlichen Betrachtung unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft, den Wandel „from ego to ecosystems“ (Otto Scharmer).
Von der „Unternehmensmaschine“ zum lebendigen sozialen Organismus
Auch in der Arbeitswelt zeichnet sich das kommende Paradigma bereits ab. Für immer mehr Unternehmen geht es auch um Sinn- statt um bloße Gewinnmaximierung. Sie begeben sich auf die Suche nach ihrem Purpose, dem, was sie antreibt und was sie ausmacht. Nährende Beziehungen, Ganzheitlichkeit und Gemeinschaft gewinnen auch im Unternehmenskontext an Bedeutung und Ego-Spiele werden immer weniger ernstgenommen.
Diese Entwicklungen sind nicht nur wünschenswert, sondern angesichts der Veränderungen unserer Lebens- und Arbeitswelt notwendig.
Technologische Entwicklungen (Digitalisierung, Plattformökonomie) und soziale Innovationen verändern unsere Arbeitswelt in einem atemberaubenden Tempo.
Es ist unklar, wie die Welt in 5 Jahren aussehen wird. Daraus ergibt sich, dass Geschäftsentwicklungen immer weniger vorhersehbar und weniger planbar werden und detaillierte Analysen und langfristige Planung im Unternehmensalltag immer weniger funktionieren. Eine Kultur der 5-Jahrespläne, des klassischen Projektmanagements und des „Command and Control“ ist somit ein Relikt der Vergangenheit und nicht mehr hilfreich, um den Anforderungen der Zeit zu begegnen.
Unternehmen stehen jetzt vor der Herausforderung, sich neu zu organisieren, um sich dynamisch an eine sich immer schneller verändernde Welt anpassen zu können. Sowohl auf der Ebene der Organisation, im Führungsstil als auch in der inneren Haltung (Mindset) der im Unternehmen Mitwirkenden ergibt sich ein großer Veränderungsbedarf.
Der Weg von den Arbeitsweisen des Industriezeitalters zu denen im „New Work“, kann als Wandel vom früheren Idealbild einer gut geölten „Unternehmensmaschine“ hin zur Idee eines lebendigen, sozialen Organismus, der von allen Akteuren bewusst gestaltet werden muss, beschrieben werden. Als solcher kann das Unternehmen schneller und flexibler auf Veränderungen reagieren und das Chaotische, das Kreative, das Schöpferische, das sich frei Entfaltende und Entwickelnde, kurz: das Lebendige kann immer mehr in unsere Wirtschaft integriert werden.
„Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können“
(Friedrich Nietzsche)
Selbstorganisation: evolutionäre und organische Entwicklung
Es stellt sich nun die Frage, wie sich Unternehmen organisieren wollen, um mehr Flexibilität, Dynamik und Kreativität zu erreichen. Wie können die nötigen offenen Räume geschaffen werden, die die Mitarbeiter brauchen, um ihr kreatives und schöpferisches Potential frei entfalten zu können und im Team ein gelungenes Miteinander auf Augenhöhe zu erreichen, in dem Co-Creation im besten Sinne möglich wird?
Selbstorganisation ermöglicht eine evolutionäre und emergente Entwicklung der Beziehungen und Verbindungen zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft, beispielsweise einer Organisation. Diese Entwicklungen vollziehen sich organisch so, dass die von ihnen verfolgten Ziele so gut und effizient wie möglich erreicht werden.
In vielen Unternehmen bilden sich selbstorganisierte Teams, die sich an Kreismodellen wie etwa Holacracy oder Soziokratie orientieren, um neue Rollenverständnisse zu schaffen, die sich von klassischen Hierarchien und dem veralteten Top-Down-Prinzip abgrenzen. Die Chance ist hier, dass Prozesse, Rollen und Verantwortungen für alle Mitglieder transparent gemacht werden können.
Wie funktioniert Selbstorganisation?
Wie kann man sich das konkret vorstellen? Entscheidungsfähigkeit und Macht werden auf Teams oder Projektgruppen verlagert. Die Verantwortung wird somit auf die Mitarbeiter, also die ausführende Ebene, delegiert.
Selbstorganisierte Teams haben neue Freiheiten, die auf der Ermächtigung, Beteiligung und Selbstregulation der einzelnen Individuen und Teams beruhen.
Aufgaben werden den Kompetenzen, Fähigkeiten und Interessen der einzelnen Mitarbeiter entsprechend untereinander selbstgesteuert aufgeteilt und es wird sich permanent miteinander abgestimmt. Anstatt an starren der job description entnommenen Rollenverteilungen festzuhalten, darf sich jeder im Unternehmen Mitwirkende immer wieder auch in andere Bereiche bewegen.
Die Selbstwirksamkeit der Mitarbeitenden wird gestärkt, indem sie die Chance bekommen, sich über neu angeeignete Kompetenzen und Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Die gestärkte Selbstwirksamkeit ermutigt die im Unternehmen Mitwirkenden dazu, sich mit ihren Talenten und Fähigkeiten, ihrem ganzen Potential einzubringen und es kann damit ein immenser Kreativitätsschub ausgelöst werden. Darüber hinaus ist das Gefühl der Selbstwirksamkeit auch ein machtvoller Schutzfaktor gegen Gefühle des Ausgebranntseins und der Sinnlosigkeit, die sonst leicht ins Burnout oder Boreout führen könnten und damit eine Ressource im Bereich der psychischen Gesundheit und der Stressresilienz.
Wissen und Können wird im integralen evolutionären Unternehmen in und unter den Teams geteilt, sodass auf kollektiver Ebener Synergieeffekte realisiert werden. Die Team-Mitglieder befruchten sich gegenseitig mit neuen Ideen und Lösungsvorschlägen, jeder bringt seine ganz eigenen Fähigkeiten und Talente und sein spezifisches Wissen und Können ein. Die kollektive Intelligenz, die sogenannte Schwarmintelligenz, ist der einzelnen Führungskraft überlegen.
Von großem Vorteil ist es deshalb, wenn die Teams nicht homogen zusammengesetzt sind, sondern wenn eine möglichst große Vielfalt an unterschiedlichen Charakteren mit verschiedenem Hintgrund zusammenkommt. Diversity gewinnt zunehmend an Bedeutung.
Um das Zusammenwirken im Team zu ermöglichen, bedarf es dabei einer steten Abstimmung im Team. Hier sind kommunikative Kompetenzen gefragt.
Durch die Schaffung einer neuen, offeneren Kommunikationskultur im Unternehmen werden Mitarbeiter in die Lage versetzt, durch freies Denken („thinking outside the box“) Bestehendes zu hinterfragen, neue Lösungen und Wege zu finden und Innovationen zu schaffen.
Eigenverantwortung braucht Selbstführung
Die Mitarbeiter gewinnen an Autonomie, Selbstbestimmung, Handlungsmacht, Selbstständigkeit, Mitbestimmungsrecht und Freiheit.
Gleichzeitig steigt die Verantwortung eines jeden Einzelnen, denn er ist nun unmittelbar am Erfolg oder Scheitern seines Projektes beteiligt.
Die größere Eigenverantwortung des Einzelnen verlangt nach Selbstführung. Wichtig ist hier die Fähigkeit, Grenzen zu ziehen, und sich nur das zuzumuten, was machbar ist. Dazu wiederum bedarf es der Fähigkeit der Selbstreflexion, der Bereitschaft zur permanenten Revision der eigenen und der kollektiv überlieferten Überzeugungen im Hinblick auf das praktische Handeln.
Unterstützend wirken hier die „Technologien des Selbst“ (Michel Foucault) jene Operationen, die die Individuen mit sich selbst, „mit ihren eigenen Körpern, mit ihren eigenen Seelen“ vollziehen, um ihre Existenz zu gestalten „und einen bestimmten Zustand von Vollkommenheit, Glück, Reinheit, übernatürliche Kraft“ zu erlangen.
Nicht selten wird in der Mittagspause Yoga oder Tai Chi praktiziert. In Teams werden Übungen zur Steigerung der Achtsamkeit durchgeführt, wie etwa Meditationen, Atemübungen oder Deep Listening. Journaling kann darüber hinaus die Selbstreflexion unterstützen.
Auf individueller Ebene und im Team kann somit ein produktiver Umgang mit den neuen Herausforderungen gefunden werden.
Die neuen Fähigkeiten zur Selbstführung und die Methoden und Übungen zur Steigerung der Achtsamkeit dürfen jedoch nicht instrumentalisiert werden, um im klassisch organisierten Unternehmen alle Verantwortung dem Einzelnen zuzuschieben und den Selbstoptimierungsdruck zu erhöhen, sondern sie müssen stets vor dem Hintergrund einer grundlegend anderen Form der Organisation von Arbeit verstanden werden.
Selbstorganisation bedeutet nicht Laissez-Faire
Selbstorganisation ist nicht mit Laissez-Faire und mit völliger Freiheit von Führung gleichzusetzen.
In einer Laissez-Faire-Unternehmenskultur kommt es sehr schnell zu Unzufriedenheit auf allen Seiten, denn es gibt keine klar kommunizierten Erwartungshaltungen. Die Mitarbeiter haben das Gefühl, nicht geführt und bei ihren Vorhaben nicht unterstützt zu werden.
Der Unternehmensberater Boris Gloger schreibt in seinem Buch „Selbstorganisation braucht Führung“, dass Führung als koordinierende und unterstützende Instanz fungieren muss:
„Es ist ein Klischee, dass Scrum und andere agile Managementmethoden funktionieren, wenn man Teams einfach sich selbst überlässt.“
Um gute Konditionen für Selbstermächtigung und Empowerment zu schaffen, braucht es klare Führung.
Leadership bedeutet den Raum zu halten
Führung ist in selbstorganisierten Teams vielleicht eine noch größere Herausforderung als zuvor, da die Führenden den einzelnen Team-Mitgliedern jetzt als Coach begleitend und unterstützend zur Seite stehen müssen. Sie müssen die Rahmenbedingungen schaffen, damit die Kollegen sich gut aufgehoben und wirksam fühlen können.
Jeder Mitarbeiter muss die Möglichkeit haben, sein individuelles Potential entfalten zu können. Darin muss er unterstützt werden und es muss der Raum dafür da sein.
Die Führungskräfte stehen vor der Aufgabe, ihr Team beim Prozess der Selbstermächtigung zu unterstützen, ihm sozusagen den Raum zu halten. Otto Scharmer bezeichnet das als „blank canvas dimension of leadership“:
„I am facilitating the opening process so my team can sense and seize emerging opportunities as they arise from the fast paced business environment we are operating in. “
Man kann sich diese neue Rolle der Führungskraft ungefähr so vorstellen wie die einer Dirigentin, die ein Orchester dirigiert. Dieses Bild verwendet auch Svenja Hofert, die in ihrem Buch „Agiler führen“ schreibt, die Aufgabe eines Dirigenten sei es
„die Kraft seiner Musiker auf[zu]nehmen und zusammen[zu]führen, lebendig, im Moment, aufeinander eingehend.“
Vom Ich zum Wir: Beziehungspflege in Zeiten der Digitalisierung
Um eine möglichst harmonische Melodie zu erreichen, müssen die einzelnen Mitglieder des Orchesters einander zuhören. So ist es auch in den selbstorganisierten Teams. Gerade in Zeiten der Digitalisierung, in vernetzten Teams, mit Remote Work, Home Office und verteilten Teams, gewinnt die Beziehungspflege an Bedeutung. Das Fundament gelingender Beziehungen ist das gegenseitige Zuhören. Deep Listening ermöglicht die Lenkung der Aufmerksamkeit von mir zum anderen, vom Ich zum Wir.
Co-Creation: Gemeinsam schöpferisch tätig sein
In selbstorganisierten Teams wird das Zuhören noch durch den der Faktor der Kreativität, des Schöpferischen, des freien Improvisierens ergänzt, sodass man hier vielleicht eher an ein Jazz-Ensemble, das frei improvisiert, als ein klassisches Orchester denken mag. Man hört nicht nur passiv zu, sondern nimmt das Gehörte auf, spielt damit, kreeirt etwas Eigenes, um dann wieder Raum für den Anderen zu machen. So entsteht Co-Creation. Es ist ein dynamisches und lebendiges Wechselspiel aus dem Aufnehmen, dessen, was an Impulsen von anderen und von der Situation kommt, und dem Reingeben eigener Impulse und Ideen. Die innere Gestaltbarkeit der Prozesse in selbstorganisierten Teams wird immer wieder ergänzt durch die Offenheit für Impulse von außen, aus dem Umfeld, aus der Gesellschaft, aus dem, was sich an Zukünftigem bereits erahnen lässt.
Arbeiten auf Augenhöhe – der Kern der Selbstorganisation
Im Mindset jedes Einzelnen muss eine große Veränderung stattfinden, damit wir einander als selbstbestimmte, gestaltungsfähige und selbstverantwortliche Subjekte begegnen. Das ist vielleicht die größte Herausforderung, doch ohne sie zu meistern, ist ein tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel und Arbeiten auf Augenhöhe nicht möglich, wie es Gerald Hüther in seinem Buch „Wie Träume wahr werden – Das Geheimnis der Potentialentfaltung“ beschreibt:
„Solange sich die Mitglieder einer Gemeinschaft gegenseitig zu Objekten ihrer Bewertungen, Erwartungen, Absichten, Ziele, Maßnahmen, Anordnungen etc. machen, ist die Entfaltung der in diesen Mitgliedern und in der betreffenden Gemeinschaft angelegten Potentiale nicht möglich. Dann findet kein Zusammenwirken auf Augenhöhe statt.“
Doch genau ein solches Zusammenwirken auf Augenhöhe ist der eigentliche Kern der Selbstorganisation. Es werden nicht mehr einfach nur Anweisungen von oben ausgeführt, sondern Abläufe selbst gewählt und Prioritäten selbst gesetzt. Ein gutes und aufmerksames Miteinander ist hier die Grundlage.
Innovationsfähigkeit durch Co-Creation
Auch wenn der Prozess des Wandels hin zur Selbstorganisation für manche Unternehmen herausforderungsvoll erscheinen mag, lohnt es sich, diesen Weg zu gehen.
Viele Teams in jungen Unternehmen wie etwa Unity Effect haben sich dafür entschieden, selbstorganisiert zu arbeiten und machen gute Erfahrung damit.
Selbstorganisation ermöglicht die kreative Entfaltung der Potentiale der Mitarbeiter durch Co-Creation in Teams, die auf Augenhöhe zusammen arbeiten. Dies steigert die Innovationsfähigkeit sowie die Anpassungsfähigkeit an stete Veränderungen in VUCA-Zeiten.
Große Unternehmen wie Buurtzorg, eine niederländische Organisation für häusliche Krankenpflege, konnten durch die Einführung von Selbstorganisation nicht nur die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter und die Zufriedenheit der Kunden steigern und die Kosten für die mobile Krankenpflege senken, sondern auch ihren Umsatz signifikant steigern.
Literaturtipps:
Michel Foucault: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Berlin: Suhrkamp 2007.
Boris Gloger: Selbstorganisation braucht Führung. Die einfachen Geheimnisse agilen Managements. München: Carl Hanser Verlag 2014.
Svenja Hofert: Agiler führen. Einfache Maßnahmen für bessere Teamarbeit, mehr Leistung und höhere Kreativität. Wiesbaden: Springer Gabler 2016.
Gerald Hüther: Wie Träume wahr werden – Das Geheimnis der Potenzialentfaltung. München: Goldmann 2018.
Frederic Laloux: Reinventing Organizations. EIn Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. München: Vahlen 2015.
Bernd Oestereich und Claudia Schröder: Das kollegial geführte Unternehmen: Ideen und Praktiken für die agile Organisation von morgen. München: Vahlen 2017.
Otto Scharmer: Theory U: Leading from the Future as It Emerges. Oakland: Berrett-Koehler Publishers 2013.